Nordwestlich von Hamburg entsteht mit dem Reallabor WESTKÜSTE100 ein Modell für die sektorenübergreifende Transformation ins klimaneutrale Wirtschaften mit Wasserstoff.  Thüga und die Stadtwerke Heide untersuchen im Teilprojekt „Grüner Heizen“ die Dekarbonisierung der Gasverteilnetze. Das Projekt hat eine bundesweite Leuchtturm-Funktion.

Zehn Wasserstoff-Reallabore will die deutsche Bundesregierung auf den Weg bringen, um Erfahrungen mit den Bedingungen einer vernetzten Wasserstoffwirtschaft zu sammeln. WESTKÜSTE100 in der Region Heide ist das erste, das 2020 schon in die Umsetzung gegangen ist. „Insofern haben wir eine bundesweite Leuchtturm-Funktion, die wir gerne wahrnehmen“, sagt Wolfgang Kehrer, Innovationsmanager bei der Thüga. Inhalt des Projekts ist die vielfältige Anwendung von grün erzeugtem Wasserstoff. Wolfgang Kehrer: „Der Strom für die Elektrolyse stammt aus regenerativen Quellen. Dazu kommen ein Zementwerk und eine Raffinerie, die die Produkte der Elektrolyse – Wasserstoff und Sauerstoff – auf unterschiedliche Weise in ihren Produktionsabläufen einsetzen können. Außerdem versorgen die Stadtwerke Heide vor Ort Menschen mit Erdgas. Hier lässt sich die Wärmeerzeugung mit Wasserstoff dekarbonisieren.“


Sektorenübergreifend im Einsatz

Um aus dem grünen Strom grünen Wasserstoff machen zu können, muss eine Elektrolyse-Anlage gebaut werden. „Den Start wird eine Anlage mit einer Nennkapazität von 30 Megawatt (MW) markieren“, sagt Wolfgang Kehrer. Später könnte eine Anlage mit 700 MW zum Einsatz kommen.

Die Abwärme, die bei der Elektrolyse entsteht, soll in einem nahegelegenen Gewerbegebiet genutzt werden. Die Raffinerie vor Ort will den gewonnenen grünen Wasserstoff unter anderem für die Produktion klimafreundlicher Treibstoffe für Flugzeuge verwenden. Hierzu soll grüner Wasserstoff mit dem Abfallprodukt CO2 aus der regionalen Zementherstellung zu synthetischen Kohlenwasserstoffen zusammengeführt werden. Gleichzeitig wird geprüft, ob der bei der Elektrolyse produzierte Sauerstoff in den Verbrennungsprozess des Zementwerks eingespeist werden kann, um damit seine Stickoxid-Emissionen (NOx) womöglich deutlich zu reduzieren.

Auch die Speicherung von Wasserstoff für sogenannte Dunkelflauten soll erprobt werden. Dazu wird eine Salzkaverne zu einem Wasserstoffspeicher umgebaut. „Über den Speicher lässt sich der Wasserstoffstrom verstetigen, sodass die nachgeschalteten Verbraucher keine Schwankungen befürchten müssen“, so Wolfgang Kehrer.


Die richtige Mischung

Ein dritter Teil des Wasserstoffs wird schließlich ins existierende Erdgasnetz beigemischt. „Unsere Arbeitshypothese lautet: Wasserstoff lässt sich ohne nennenswerte Neuinvestitionen im existierenden Erdgasnetz einsetzen und entfaltet sofort seine klimaentlastende Wirkung. Das ist ja gerade der große Vorteil des Einsatzes von Wasserstoff im Bereich Wärme gegenüber der Nutzung in anderen Sektoren wie etwa Verkehr oder Industrie“, sagt Wolfgang Kehrer. „Wir gehen davon aus, dass wir weit mehr Wasserstoff beimischen könnten, als es die regulatorische Grenze des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches von 9,9 Prozent vorsieht.”

Bis diese Arbeitshypothese erhärtet und zur Gewissheit geworden ist, wird allerdings noch eine Menge Nordseewind die Windräder an der Küste drehen müssen. Und ganz ohne Neuinvestitionen kommt auch die Nutzung von Wasserstoff zur Wärmeerzeugung im Reallabor WESTKÜSTE100 nicht aus. Eine neue Gaspipeline muss erst noch den Elektrolyseur und den rund zehn Kilometer entfernt liegenden Betriebshof der Stadtwerke Heide verbinden. „Über die neue Pipeline kommt bei den Stadtwerken reiner Wasserstoff an, der dann über eine Einspeiseanlage in das bestehende Erdgasnetz zugemischt wird“, erklärt Wolfgang Kehrer.


Testlauf in mehreren Schritten

2023 werden die rund 200 Endkunden eines Wohngebiets in der Stadt Heide die erste Heizperiode mit Erdgas durchheizen, dem 10 Prozent Wasserstoff beigemischt wurden. Im Folgejahr sollen es dann 20 Prozent sein. Wolfgang Kehrer: „Das Wohngebiet wurde ausgesucht, weil es netztechnisch klar vom übrigen Verteilnetz abgrenzbar ist und weil der Bestand der dort eingesetzten Heizthermen relativ jung ist.“ Bevor das Gas in neuer Mischung tatsächlich zu den Verbrauchern strömen darf, werden alle dort angeschlossenen Haushalte mit einem Expertenteam begangen und per Prüfgas mit 30 Prozent Wasserstoffanteil getestet. „Schließlich wollen wir sicherstellen, dass bei jeder einzelnen Familie die Heizperiode auch wirklich ohne Störung abläuft.“ Für 2025 ist das Projektende anvisiert. Wolfgang Kehrer: „Die Ergebnisse von WESTKÜSTE100 werden wir in der Thüga-Gruppe allen Partnerunternehmen zur Verfügung stellen. Das Projekt wird so als Blaupause die Transformation in Richtung dekarbonisierte Gasnetze voranbringen.“